Home ~ Publikationen ~ Der kleine Mann

Der kleine Mann

Eine fast wahre Geschichte von Susanne Bachelier


Mein Name ist Kleiner Mann. Komischer Name, sagst Du? Nun, meinen richtigen Namen, also den, den mir meine Mama und mein Papa gegeben haben, weiß ich nicht mehr. Oder ich will ihn gar nicht mehr wissen. Denn wenn ich an meine Eltern denke, werde ich sehr traurig. Und ich will nicht traurig sein. Ich will fröhlich sein, lachen und tanzen! So wie die anderen Kinder auch. Und ich tu es. Ich singe und tanze den ganzen Tag, und dann merke ich, wie sich alle Leute nach mir umdrehen. Und wie sie über mich lachen. Oder mit mir. Wie man es nimmt. Aber wenigstens weiß ich dann, dass sie einen ihrer unzähligen Gedanken mir geschenkt haben. Und das macht mich glücklich, denn wer denkt sonst schon an mich?

Ich wohne unter einem Tisch auf dem großen bunten Markt. Es ist nicht wirklich bequem, aber ich lebe schon lange hier und deswegen merke ich die spitzen Steine gar nicht mehr, die sich jede Nacht in meine Haut bohren und hässliche kleine Wunden hinterlassen. Eine alte Marktfrau hat mir die Decke geschenkt, auf der sie immer ihre Waren zum Verkauf ausgebreitet hat. Sie ist dreckig und durchlöchert, aber das stört mich nicht. Ich bin froh, dass ich etwas habe um mich zudecken zu können. Das schützt mich gegen die Moskitos, diese lästigen kleinen Fliegen, die so eklig juckende Stiche auf meiner Haut hinterlassen. Unter dem Tisch schlafe ich deshalb, weil er mich vor dem Regen schützt, der einmal im Jahr wochenlang die Felder tränkt. Das kann ganz schön lästig sein, vor allem wenn das viele Wasser große Löcher in die Erde gräbt. In denen sammelt sich dann nämlich der ganze Dreck. Und wegen der Hitze fängt er an zu verwesen und zu stinken.

Aber es ist auch gut, dass es soviel regnet. Dadurch können die vielen wertvollen Früchte wachsen, die Papayas, Bananen und Orangen. Und auch der Reis wächst nur, wenn er genügend Wasser hat. Ist ja irgendwie klar, wenn ich nie was zu essen hätte, würde ich auch keinem mehr dienen wollen. Aber ich bekomme ja immer die Reste von meiner Marktfrau. Dafür muss ich ihr natürlich helfen. Ich locke die Menschen herbei, die über den Markt schlendern um etwas zu kaufen. Und ich sage ihnen, dass die selbst geflochtenen Körbe, die meine Marktfrau verkauft, die allerbesten sind. Manchmal lassen sie sich überzeugen und kommen näher. Und oft kaufen sie auch etwas. Dafür bekomme ich dann ein wenig Reis mit Fisch von meiner Marktfrau. Ich bin ihr dafür sehr dankbar, denn wenn sie mich nicht für sich arbeiten ließe, müsste ich vielleicht verhungern.

Ich bin nicht der einzige Junge, der auf dem Markt lebt. Hier wohnt eine ganze Horde. Manche werden von den Kaufleuten verjagt. Aber die sind dann selber schuld. Sie machen böse Dinge, bestehlen die Marktfrauen und kaufen sich von dem Geld Drogen. Das ist nicht gut, das weiß ich ganz genau. Erst vor ein paar Tagen wollte ein Freund von mir das Zeug auch mal probieren. Aber er hat es nicht vertragen.

Meine Freunde und ich, wir treffen uns immer abends, wenn der Marktplatz leer ist. Davon, wie viel hier untertags los ist, zeugen dann nur noch herumliegende Plastikflaschen, Dosen, zermanschte Melonen und Orangenschalen. Aber die sieht man fast nicht, denn es wird schnell dunkel. Dann zünden wir uns Kerzen an, die wir auf der Straße gesammelt haben. Und wir benutzen leere Plastikcontainer und trommeln darauf herum. Das macht so einen Lärm, dass wir auch Kinder aus der Umgebung anlocken. Dann sind wir alle eine große Einheit und singen und tanzen zusammen. Jeder macht mit, denn die Musik bereitet uns allen eine große Freude.    

Manchmal gehe ich auch in der Stadt spazieren. Und dann spaziere ich, wie zufällig, am großen Haus des Zolldirektors vorbei. Ich mag ihn nicht, er ist ein Angeber. Er hat viele Kinder und eine Gattin, aber er lässt keine Gelegenheit aus, mit anderen Frauen auszugehen. Natürlich tut seine Frau so, als würde sie nichts davon bemerken, auch wenn die Nachbarn schon über sie tuscheln. Denn sie hat Angst vor ihrem Mann. Und sie ist nicht dumm - sie weiß auch, wenn sie nicht bei ihm bleibt, geht es ihr genauso dreckig wie vielen ihrer Bekannten. Der Zolldirektor ist sehr reich. Er muss nicht viel arbeiten - er hat ein großes Büro, in dem steht sogar ein Computer. Aber der ist nie angeschaltet, und der Schreibtisch ist immer leer. Nur in den Regalen stehen ein paar Ordner. Aber die sehen nicht danach aus, als würden sie oft herausgenommen.

Wenn ich an dem großen Haus des Zolldirektors vorbeispaziere, gehe ich immer extrem langsam. Um möglichst lange die Möglichkeit zu haben, von ihm gesehen zu werden. Denn dann kommt er meistens raus. Er ruft schon von weitem „Hey, kleiner Mann, das ist ja schön, dass ich dich mal zufällig wieder treffe...". Und ich tue so, als wäre ich überrascht ihn zu sehen. Weil er von allen bewundert werden will, trägt er stets Kleidung, die jedermann erkennen lässt, welch ein einflussreicher Geschäftsmann er ist. Er sieht darin ein bisschen albern aus, in seinem dunkelroten Seidenanzug mit weißen Punkten.
Aber das darf man ihm nicht sagen. Und man darf sich auch nicht anmerken lassen, dass man sich nur zwanghaft ein Lachen unterdrücken kann. Sonst würde er böse werden und das nächste Mal nicht mehr aus dem Haus kommen, wenn er einen sieht. Er lädt mich dann immer in sein Wohnzimmer ein. Das Wohnzimmer ist sehr groß, grösser als das Haus, in dem ich mit meinen Eltern und meinen sieben Geschwistern gelebt habe. Und darin stehen jede Menge Sofas und Stühle, denn ein so berühmter Mann muss immer damit rechnen, viel Besuch zu bekommen. In dem Wohnzimmer steht auch ein großer Fernseher. Natürlich ist er an, denn wer sich einen Fernseher leisten kann, muss auch beweisen, dass er funktioniert. Das tut er zwar nicht so richtig - der Ton rauscht und immer wieder flackert das Bild auf und schwarze Streifen ziehen über die Fläche. Der Strom läuft mal wieder nicht richtig. Er fragt mich, was ich trinken will. Ich fühle mich nicht wohl in all dem ungewohnten Luxus, aber ich lasse es mir nicht anmerken. „Eine Fanta bitte", sage ich.
Und dann bekomme ich sie eisgekühlt, denn der Zolldirektor hat einen Kühlschrank. Ich trinke sehr langsam, genieße jeden Schluck - es ist ein Genuss gegen das doch immer gleich schmeckende, lauwarme Brunnenwasser. Ich trinke noch langsamer und versuche möglichst gleichgültig dreinzublicken. Es will mir nicht gelingen, ich merke selber wie ich mir vor Anspannung fast die Zehen verknote. Und dann, endlich, spricht er es aus auf das ich schon so lange gewartet habe: „Du brauchst neue Schuhe, mit denen da kannst du ja keine drei Schritte mehr gehen!" Und er drückt mir 2000 Guinea Franken in die Hand. Ich sage artig danke, rutsche vom Sofa und verschwinde aus diesem riesigen Zimmer, das auf mich doch nur beklemmend wirkt.

Heute Nacht kann ich nicht schlafen. Es gehen mir viele Dinge durch den Kopf. Zum Beispiel überlege ich, was ich mache, wenn meine Marktfrau mich mal nicht mehr für sich arbeiten lässt. Vielleicht stirbt sie ja, oder ihr Mann verbietet ihr, einen kleinen Rotzbengel wie mich als Helfer zu haben. Zu einer anderen Marktfrau zu wechseln wäre nicht so leicht möglich. Sie haben meistens schon andere Helfer, denn neben den Jungs, die auf dem Markt wohnen gibt es noch jede Menge Kinder aus der Nachbarschaft, die ihre Eltern durch die Paar Groschen, die sie am Markt verdienen, entlasten wollen. Und die Marktfrauen, die keinen Helfer haben, wollen oft auch keinen. Sie haben zuviel schlechte Erfahrung mit ihnen gemacht.
Wenn ich nicht mehr auf dem Markt arbeiten kann, könnte ich auch mit meinem verdienten Geld Kaugummis, Zigaretten und Kekse besorgen und sie etwas teuerer auf der Straße an die Autofahrer weiterverkaufen. Das machen viele Kinder, und ich glaube, auch mir könnte es Spaß machen, neben den Autos einher zulaufen und meine Waren durch das Fenster zu stecken.

Manchmal denke ich auch darüber nach, wie es wäre, wenn ich wieder in die Schule gehen könnte. Das hat mir immer Spaß gemacht. Mathematik war nie wirklich schwer für mich und ich konnte auch sehr schnell lesen. Wenn ich gerade nichts zu tun habe, besorge ich mir eine alte Zeitung, mit der die Marktfrauen ihre Waren verpacken und versuche, die Wörter zu buchstabieren. Es fällt mir immer schwerer. Denn die Sprache der Medien ist französisch. Und ich habe sie schon fast verlernt. Es ist ja auch kein Wunder, am Markt werden mehrere afrikanischen Sprachen durcheinander gesprochen, wie Sousous oder Malinke. Und ich beherrsche sie alle, ich spreche insgesamt fünf verschiedene Sprachen! Doch leider nützt mir das nichts wenn ich lesen will. Das geht hier nur auf Französisch.

Ich würde gerne wieder zur Schule gehen, doch wer würde meine Bücher zahlen? Alle Hefte und die Stifte? Und wer würde für mich arbeiten und den Marktfrauen helfen, so dass sie mir von ihrer Mahlzeit geben?
Ich könnte mir selber Fische fangen. Im Angeln bin ich gut, das habe ich schon oft ausprobiert. Ich breche mir dann einen Stecken von den Bäumen ab und binde eine Schnur daran, die ich auf den Straßen finde. Dann drehe ich ein Stück Draht so, dass er einen Widerhaken bildet. Den binde ich vorne an die Schnur und die Schnur binde ich an den Stecken. Und dann gehe ich ans Meer und halte den Haken ins Wasser. Meine Beine versinken im grauen Uferschlamm, doch das macht mir nichts. Ich sehe nichts mehr außer dem Stecken mit der Schnur und warte darauf, dass ein Fisch anbeißt.

Meine Freunde und ich gehen immer gemeinsam angeln. Wenn wir genügend kleine Fische zusammen haben, machen wir ein Feuer und grillen sie darüber. Das schmeckt lecker und ist für uns wie ein Festessen. Ich denke an das leckere Mahl und endlich schlafe ich ein. Ich erwache, als die Moschee zum Morgengebet ruft. Es ist ein lauter, schallender Klagegesang der die Menschen zu locken versucht. Ich drehe mich auf die andere Seite und schlafe weiter.

Ich habe einen neuen Freund gefunden. Ein kleiner Hund, der nicht mehr von meiner Seite weicht, seitdem ich ihn von der Straße gezogen und zu fressen gegeben habe. Geduldig wartet er mit weit geöffneten braunen Knopfaugen, bis ich ihm etwas von meinem hart verdienten Essen abgebe. Dadurch bekomme ich selbst nur noch die Hälfte ab. Aber das macht mir nichts aus, denn es ist schön einen Freund zu haben, mit dem man allen Kummer teilen kann. Der kleine Hund hat Abszesse hinter den Ohren. Er hat sich bereits so blutig gekratzt, dass das hellrote Fleisch auf seiner Kopfhaut sichtbar wird. Doch er hält durch, lässt sich seine Schmerzen nicht anmerken. Das macht mir Mut. Gemeinsam sind wir stark, das fühle ich.

Heute haben mich meine Kumpels gefragt, ob ich mit ihnen ins Kino gehen will. Klar will ich. Ich habe auch schon genug zusammengespart. Denn schon seit Wochen lege ich Geld dafür beiseite.
In das Kino in das wir gehen, passen in etwa 20 Kinder. Sie drängen sich in die harten Holzbänke, kleinere werden auf den Schoß genommen, damit auch ja jeder einen Platz findet und gut zu dem kleinen Fernseher sehen kann, der vorne in der Ecke aufgebaut ist. Von dem japanischen Kampffilm, der gezeigt wird, verstehe ich nicht viel. Es wird geschrieen, und die zwei Hauptdarsteller verprügeln sich von Zeit zu Zeit. Das finde ich toll - auch ich wäre gerne so stark. Dann plötzlich Schüsse, ein Gebäude fliegt in die Luft. Alles hell von Flammen, doch die Helden haben überlebt. Ach, welch ein Film. Könnte er nicht Wahrheit werden und ein wenig Aufregung in die langweiligen Tage bringen?

Weil alle Kinder hellauf begeistert sind und jubilieren, wird noch ein Video gezeigt. Doch diesmal kriegen wir von dem Film nicht wirklich viel mit. Zuerst, weil wieder mal der Strom ausfällt. Als er endlich wieder fließt, fängt es draußen zu regnen an. Es schüttet so gewaltig, dass das Blechdach über unseren Köpfen einzustürzen droht. Von den Worten, die aus dem Fernseher dröhnen hört man nur noch ein schemenhaftes Grollen. Das Dach ist undicht, und bald schon regnet es herein. Es ist uns egal, ob wir im oder außerhalb des Hauses nass werden, also stürzen wir ins Freie und rennen auf die Straße, um einen vorbeifahrenden Kleinbus zu stoppen.

Der Bus ist gestopft voll. Außer uns sind 19 Erwachsene, 5 Kleinkinder und zwei Hühner auf dem Weg zurück in die Stadt. Ich muss in dem engen Gang stehen, was mir nicht besonders leicht fällt, vor allem, weil der Fahrer trotz dichter Regenwand sein Tempo beibehalten will und ab und zu abrupt bremsen muss, wenn er wieder eines der weit aufgeklafften Schlaglöcher zu spät bemerkt.

Manchmal werde ich von den größeren Jungs zu einer Taxifahrt eingeladen. Das ist ganz schön teuer, ich kann es mir nicht leisten. Aber sie zahlen für mich. Das muss ich ausnützen.
Die Taxis sind ganz gewöhnliche Autos. Sie kommen aus Frankreich. Und sie werden erst dann mit dem Schiff zu uns transportiert, wenn in Frankreich schon längst keiner mehr damit fahren würde. Sie sind verbeult und haben viele Roststellen. Oft sind auch schon ganze Autoteile abgebrochen, und man kann durch ein großes Loch am Autoboden die afrikanische Erde begutachten. Und funktionieren tun sie auch meistens nicht, die Taxis. Irgendwann, mitten im Nichts, bleiben sie stehen und alle dürfen aussteigen und darauf warten, bis ein neues Taxi vorbeikommt, das einen Platz übrig hat.

In so ein Taxi passen mindestens sieben Leute. Am Beifahrersitz drängen sich zwei, und hinten mindestens vier Menschen neben- oder je nach Dicke aufeinander. Kinder werden generell auf den Schoß genommen. Wer leicht Platzangst bekommt, darf in so ein Ding gar nicht erst einsteigen.
Der Taxifahrer fährt auch immer erst dann los, wenn sein Auto wirklich randvoll ist. Klar, er will ja was verdienen an seiner Fahrt. Aber für die Mitfahrenden ist es doof. Vor allem dann, wenn man als erstes in den Wagen steigt. Manchmal muss man ganze zwei Stunden warten, bis die Reise endlich losgeht.    

Einmal habe ich bei unserer ersten Taxipause einen richtigen Schock bekommen. Während der Fahrt hatte ich mich gewundert, dass der Fahrer so ruppig bremst, aber weil das hier gang und gäbe ist, habe ich mir weiter nichts dabei gedacht. Und dann, beim ersten mal Tanken: Der Fahrer steigt aus, und ich sehe: Er hat nur ein Bein!!! Mein Gott, wie kann er nur mit einem einzigen Bein fahren?!! Mir wird ein bisschen schlecht. Aber es hilft alles nichts, die Fahrt geht weiter und auch ich bleibe mit einem höllischen Gottvertrauen auf meiner Rückbank sitzen. Sonst komme ich nie an mein Ziel.

Oh, da kommt mein großer Bruder. Sicher bringt er mir Neuigkeiten von meinen Eltern und Geschwistern! Wenn ich Glück habe, darf ich wieder mit ihm nach Hause gehen. Drückt mir die Daumen! Und - danke, dass Ihr mir so lange zugehört habt. Bis zum nächsten Mal! Und dann müsst Ihr mir was von Eurer Heimat erzählen!
 
Sponsoren unserer Website:
Banner
Deutsch (DE-CH-AT)English (United Kingdom)French (Fr)